„Alle fordern ‚Leidenschaft‘, aber ich weiß noch gar nicht, was ich will“
Wenn ich mit Studierenden über ihre Abschlussarbeitsthemen spreche oder sie nach ihren beruflichen Zielen nach dem Studium frage, erlebe ich oft eine Unsicherheitssituation. Themen für die Abschlussarbeit versuche ich immer mit den Studierenden zusammen zu formulieren. Dabei muss ich zwei Dinge beachten:
1. Für was interessiert sich der/die Studierende wirklich? Worauf hat er/sie wirklich „Bock“? Man lernt nur über eine emotionale Bindung an ein Thema nachhaltig. Ansonsten wird lustlos und ohne Bezug zu einem Thema geschrieben, häufig mit riesiger Verzögerung. Beim Lesen der Abschlussarbeiten merkt man das ganz schnell. Aus diesem Grund zwinge ich die Studierenden vorab zu überlegen, was sie wirklich motiviert und interessiert, gerne auch in Bezug auf Dinge, die außerhalb des Studiums anfallen wie z.B. Sport, Musik, Reisen etc.
2. Welche berufliche Tätigkeit würden die Studierenden gerne nach ihrem Studium anstreben und inwiefern passt ihr Thema aus der Abschlussarbeit dazu? Denn das Thema zeigt u.a., ob jemand wirklich „Feuer“ für eine Themenstellung hat oder entwickeln kann.
„Was soll ich nur nach der Schulzeit machen? Was will ich eigentlich und was interessiert mich? Habe ich überhaupt Vorstellungen, wie es nach der Schule oder dem Studium weitergehen soll? Alle sagen, ich soll darüber nachdenken, was meine Motivation oder gar meine LEIDENSCHAFT ist. Wie soll ich das wissen, wenn ich so viele Jahre in die Schule gegangen bin und mir immer wieder gesagt wurde, was ich zu lernen habe. Jetzt soll ich zum ersten Mal eine eigene Entscheidung treffen, was mich interessiert? Nicht einfach. Ich muss noch mehr Erfahrungen oder Optionen sammeln, damit ich weiß, was mich wirklich interessiert und was mir SINN gibt und damit auch eine „leidenschaftliche“ Einstellung. Nur Geld zu verdienen, damit ich mit einem Drittel oder gar der Hälfte meines Monatseinkommens die Warmmiete bezahlen kann, klingt nicht gerade sinnerfüllend.“
Gut ist: Man steht mit diesem Problem nicht allein da.
Eine Grafik von Henning Wiedlich, Geschäftsführer & Gründer bei Youreer, bringt es auf den Punkt:
Wenn man den wissenschaftlichen Untersuchungen und Befragungsergebnissen von z.B. Prof. Dr. William Damon (Standford University; Professor of Education at Stanford University and the Director of the Stanford Center on Adolescence) glauben darf, der sich auf die Zielgruppe 12-25 Jahre fokussiert hat, dann wissen gut 80%, also 8 von 10 Leuten zwischen 15 und 26 Jahren nicht, was wirklich genau ihre Leidenschaft ist. Das ist also NORMAL. Bitte keinen Druck von irgendeiner Seite machen lassen.
Insbesondere mit seiner berühmten Rede auf der AbsoventInnen-Feier der Standford University 2005 (Stanford Commencement Address) forderte Steve Jobs (Apple): Follow your heart“[1]. Ihre über 30 Mio. Aufrufe zeigen,dass die Rede viele Menschen inspiriert hat. Zugleich setzt sie junge Leute aber auch unter Druck schnell ihre eigentliche „Leidenschaft“ finden zu müssen.
Steve Jobs war eine erfolgreiche Ausnahme. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zeigen ein anderes Bild:
Prof. William Damon (Standford University; Professor of Education at Stanford University and the Director of the Stanford Center on Adolescence.)[2]
Seine beiden Kollegen von der Standford University, Bill Burnett und Dave Evans, haben sogar ein Buch (Designing your Work, auch als Hörbuch verfügbar) geschrieben:
In diesem Buch kommen sie zu der empirischen Tatsache, dass dies alle Altersgruppen betrifft: “Our experience suggets, similarily, that 80 percent of people of all ages don’t really know what they are passionate about”
Den typischen Dialog beschreiben Bill Burnett und Dave Evans deshalb in ihrem Buch auch richtigerweise so (S. 56):
Es empfiehlt sich mal, sich Vorträge der beiden anzuhören[4].
Also, seine „LEIDENSCHAFT“ muss man erst suchen und viele müssen dazu „Versuch-und Irrtums-Aktivitäten aktiv und auch mit Risikobereitschaft durchführen. Wie bereits gesagt: Optionen sammeln für den Zufall.
Natürlich will jeder/jede in einem bestimmten Alter seine „gefundene“ Leidenschaft (Passion) für eine Tätigkeit beruflich nutzen. Darin seinen Sinn sehen. Spätestens das Thema „Influencer werden“ belegt dies beispielhaft. So wollen – nach einer Erhebung des Berufsverbandes Bitkom aus dem Jahr 2017[5] gut 1/3 der Jugendlichen beruflich als „Influencer“ arbeiten:
Das gilt auch für Musiker, Sportler, Künstler etc. Damit ist klar: Hierfür gibt es nicht genug Beschäftigungsmöglichkeiten.
Schon 2003 haben die kanadischen Wissenschaftler R. Vallerand, C. Blanchard, G. A. Mageau, R. Koestner, C. Ratelle, M. Léonard und M. Gagne in ihrer bekannten Studie ca. 540 Studenten (ca. 40% männlich, 60% weiblich) im Durchschnittsalter von 19 Jahre zu ihren persönlichen „Leidenschaften“ befragt[6]
Die nachfolgenden beiden Tabellen zeigen:
a) für was diese Zielgruppe eine „Leidenschaft“/“Passion“ beruflicherseits entwickeln könnte (S.759):
b) aus welchen Gründen man diese „Leidenschaften“ anstrebt (S. 760):
Zählt man hier die Prozentzahlen (siehe Tab. 1) zusammen, dann kommt man bezüglich der aufgezählten „Leidenschaften“: Sport, Musik, Kunst und Entertainment schnell auf über 90%.
Schaut man sich die Arbeitsplatzangebote für solche „Leidenschaften“ auf dem deutschen Arbeitsmarkt an (Statistisches Bundesamt, Wiesbaden), kommt man zu nüchternen Erkenntnissen.
Am Beispiel der „Leidenschaft“ für „Entertainment“, also Schauspieler, Entertainer, TV-, Film- und Theaterproduzenten etc“ hat das Statistische Bundesamt ca. 163.000 Erwerbstätige 2017 (letzte Erhebung) von ca. 45 Mio. Erwerbstätigen in Deutschland registriert, was ca. 0,4%, also zur Klarstellung: 4 von 1000 Arbeitsplatzangeboten, ausmacht[7].
Von wegen 90%.
(S. 21)
(S. 22)
Bei rund 53.000 Studierenden im Fach Film und Fernsehen sowie Schauspiel dürfte die Konkurrenz nicht gerade klein sein (S.19).
Auch die anderen Fakten, wie Geschlecht, Grad der Freiberuflichkeit, Beschäftigungsumfang, Arbeitszeit und vor allem Nettoeinkommen (ca. 60% unter 2000 € pro Monat) sprechen eine deutliche Sprache, wie die nachfolgende Graphik belegt (S.25):
Dass man auch in diesen „Leidenschaftsberufen“ überdurchschnittlich häufig als Freelancer arbeitet, verdeutlicht nochmal folgende Übersicht (S.24):
Der bereits erwähnte Henning Wiedlich, Geschäftsführer & Gründer bei Youreer, fasst das Fazit graphisch gut zusammen[8]
Am Schluss seiner Ausführungen gibt Wiedlich noch den richtigen Hinweis, dass „Leidenschaften“ sich über Jahre, auch aus Erfahrungen heraus, ändern. Gleichzeitig weist er richtigerweise auch auf die Tatsache hin, dass sich Leidenschaften und (berufliche) Chancen oftmals entgegengesetzt entwickeln können[9]
Das heißt also: Fleißig Optionen sammeln, Risiken eingehen und schauen, wie es anderen ergangen ist, wenn sie ihre beruflichen Zielen in der Rückschau mit ihren tatsächlichen beruflichen Aktivitäten vergleichen. Sind Sie zufrieden?
[3] Interview-Tipps und Links:
https://www.youtube.com/watch?v=RtxgykMwMJk
https://www.youtube.com/watch?v=GbHjv7dSu_8
[4] https://www.youtube.com/watch?v=1Na-gjMv2Y4
https://www.youtube.com/watch?v=SemHh0n19LA
[5] Bitkom Research 2017: Social Media-Nutzer, denen der Begriff Influencer bekannt ist (n=401) (https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Jeder-Fuenfte-folgt-Online-Stars-in-sozialen-Netzwerken.html):
[6] R. Vallerand, C. Blanchard, G. A. Mageau, R. Koestner, C. Ratelle, M. Léonard und M. Gagne: Les Passions de l’Ame: On Obsessive and Harmonious Passion; in: Journal of Personality and Social Psychology, 2003, Vol. 85, S. 756 – 767.
[7] Statistisches Bundesamt: Bildung und Kultur; Spartenbericht Film, Fernsehen und Hörfunk, Wiesbaden 2019
[8] https://www.youreer.de/2017/12/folge-nicht-einfach-blind-deiner-leidenschaft/
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