„Ich kann mich – jetzt – noch nicht wirklich entscheiden“
Immer wieder werden SchülerInnen von Abschlussklassen mit Entscheidungen konfrontiert, was sie nach dem Haupt- oder Realschulabschluss oder dem (Fach-) Abitur erlernen bzw. studieren sollen. Wir hatten bereits in einem Blogbeitrag darauf hingewiesen und nachgewiesen, wie schwer es für die meisten ist, Entscheidungen - gerade über ihre berufliche Zukunft - zu treffen.
Der Erwartungsdruck aus dem sozialen Umfeld (Familie, Freunde, Schule) ist relativ hoch. Die Angst vor der „falschen“ Entscheidung ist extrem groß und verursacht schlaflose Nächte.
Deshalb sei schon an dieser Stelle an ein Statement von US-Rapper, Filmproduzent und Schauspieler Will Smith erinnert:
„Du musst Dich daran erinnern, dass Angst nicht echt ist. Es ist ein Produkt der Gedanken, die Du kreierst. Verstehe mich nicht falsch. Gefahr ist echt, aber Angst ist eine Entscheidung“.
In dem Zusammenhang lohnt es sich vielleicht, nochmal seinen inspirierenden Film: „Das Streben nach Glück“ (The Pursuit of Happiness) anzusehen oder seine Kurzbiographie und Motivationsansichten auf YouTube (https://www.youtube.com/watch?v=EogKBTzjzgk, https://www.youtube.com/watch?v=eNyrO_yU8Fg) zu betrachten.
Also, Angst vor falschen Entscheidungen, was immer man auch unter „falschen“ Entscheidungen versteht, ist hemmend und nicht zielführend. Manchmal sind es gerade diese „falschen“ Entscheidungen, die einem helfen, den richtigen Weg zu finden. Zudem ist Angst hochansteckend und verbreitet sich wie ein Krankheitserreger sehr schnell. Spätestens bei der Fake-News-Thematik sieht man das Verbreitungspotenzial dieser angsterzeugenden Fake-News, die sich bekanntlich viel schneller ausbreiten als wahre Nachrichten.
Deshalb gleichmal vorweg:
1. Übertreiben wir es mit dem Zwang zur persönlichen Entscheidungsfindung nicht zu sehr. Sie hat vor allem kognitive Grenzen:
- Neuro- und kognitionswissenschaftliche Studien zeigen, dass pro Tag, nochmal pro Tag, Menschen 60.000 – 80.000 Gedanken durch den Kopf gehen, wovon gut 2/3 flüchtige Gedanken, immerhin fast 30% negative oder gar destruktive Gedanken sind und nur knapp 4% positive, glücklich machende, kreative oder aufbauende Gedanken. Alles wirkt auf die individuellen Entscheidungsprozesse mehr oder minder stark ein. Alles wirkt sich extrem auf die persönlichen Stimmungen und Planungen aus.
- Ebenfalls neurobiologisch ist bekannt (Gerhard Roth), dass Menschen ca. 11 Mio. Sinneseindrücke pro Sekunde, nochmal: pro Sekunde (im Unterbewusstsein) verarbeiten müssen, also Entscheidungen treffen müssen, wobei das Bewusstsein höchsten 40 Sinneseindrücke, also ca. 60 Bits pro Sekunde, somit weniger als 0,1% der Einflüsse kognitiv willentlich parallel verarbeiten kann[1]. Fragt sich nur noch, wo der „freie Wille“ bleibt J.
- Nochmals, entgegen den fatalen, längst widerlegten Hoffnungen (besonders der Ökonomen) auf reine rationale, also von purer Vernunft geprägte Entscheidungen, muss der Tatsache der Erkenntnisse der Hirnforschung gefolgt werden, die der Bremer Neurobiologe Gerhard Roth wie folgt konkretisiert: "Alle Entscheidungen sind letztlich Gefühlsentscheidungen", sagt Gerhard Roth, Hirnforscher an der Universität Bremen. Grundlage unserer Motivation sei immer das Gefühl, dazwischen komme eventuell die Ratio ins Spiel“[2].
- Und noch eine klare Erkenntnis: „Nur für die wenigsten Entscheidungen hat man Zeit. Die allermeisten fallen schnell: Innerhalb von Sekunden treffen wir jeden Tag bis zu 100.000 Entscheidungen. Das Bewusstsein verschlingt 80 Prozent der Energie im Gehirn. Nur 20 Prozent stehen dem Unterbewusstsein zur Verfügung[3].
2. Ziehen wir mal kurz den Stecker und versuchen, ruhig zu bleiben: Wir werden im kommenden Berufsleben immer wieder und noch häufiger als in der Vergangenheitswelt der Baby Boomer-Generation, die meist immer von einem Studien- oder Berufsabschluss ein Leben lang leben konnten, und dadurch oft stehengeblieben sind, solche gravierenden Entscheidungen zur Studien- und Berufswahl treffen müssen.
Bringt man jetzt noch die Aspekte „Lebenslanges Lernen“, berufliche Weiterbildung und Umqualifizierung sowie Lebenserwartung zusammen, dann wird der Zwang zur Entscheidungsfindung, was man studieren oder beruflich machen soll, nochmals klar relativiert und etwas entspannt, wenn man sich mit den diskutierten Fragen zu den Beschäftigungseffekten und Qualifikationserwartungen bzw. -notwendigkeiten (wie in kommenden Blogbeiträgen) auseinandersetzt.
Folgt man den Prognosen des deutschen Statistischen Bundesamts zur Lebenserwartung 2060[4], dann schaukelt sich die durchschnittliche Lebenserwartung je nach Szenario bei Männern auf ca. 85 – 87 Jahre und bei Frauen auf 89 - 91 Jahre ein, also nochmal einige Jahre mehr als im Vergleich zum jetzigen Stand. Das ist erstmal eine schöne Nachricht oder sollte eine schöne Prognose sein. Noch nicht eingerechnet sind die medizinischen Fortschritte, die möglicherweise die Lebenserwartungen nochmals auf 100 und mehr Jahre erhöhen könn(t)en.
Dass die deutschen Renten- und Krankenkassensysteme jetzt schon am Limit sind und dann später dies nicht mehr tragen können, ahnt oder weiß jeder schon jetzt. Also, extremer Zwang zu längerer Lebensarbeitszeit – bis 80 Jahre? Kein RUHESTAND mehr? Nur noch für körperlich anstrengende Berufe frühzeitige Zurruhesetzungen oder werden die durch Maschinen ersetzt? Werden die Automatisierungen in der Berufswelt, gerade was Routineaufgaben angeht, den Kampf um (sinnerfüllende) Arbeitsplätze und Berufstätigkeiten verschärfen? Oder wird dies ein Segen sein, da die demographischen Entwicklungen, gerade in Deutschland, dazu führen, dass nicht genug Nachwuchs, also junge Leute, nachkommen? Spätestens 2060, also in 40 Jahren, werden 2/3, nochmal: zwei Drittel, der deutschen Bevölkerung über 60 Jahre alt sein und dann noch gut 30 Jahre weiterleben. Ob diese 30 Jahre dann nur mit „Kreuzfahrten“ oder permanenten Garten- und Renovierungsarbeiten auszufüllen sind, darf bezweifelt werden. Aus Sinn– und Finanzgründen wird das wohl nicht möglich sein und vielleicht auch nicht erstrebenswert sein. 30 Jahre zusätzliche Langeweile durch Nichtstun oder Nicht-Gebraucht- Werden?
Also ziehen wir ein erstes Fazit:
Man wird in Zukunft, und das sieht man ja schon heute, mehrfach einschneidende berufliche und Qualifikationsentscheidungen treffen müssen. Vielleicht mehrfach seine Arbeits- und Berufstätigkeiten oder Standorte völlig ändern müssen. Die Berufs- und Arbeitswelt der Vergangenheit, also die der Eltern und Großeltern ist deshalb ein falscher Orientierungspunkt. Das ist Vergangenheit. Die informationstechnologisch-digitalisierungsgetriebene Geschwindigkeit der Veränderungsprozesse ist exponentiell, d.h. die Halbwertzeiten der beruflichen Tätigkeitsprofile und erworbenen Abschlüsse werden sich gravierend verkürzen. Muss man einmal erworbenen akademischen und/oder beruflichen Bildungsabschlüssen bereits ein Verfallsdatum aufdrücken oder Gesetze auf den Weg bringen, mit der Pflicht, frühzeitig ehemalige Aus- und Weiterbildungszertifikate zu erneuern, wie eine Lizenz oder einen Personalausweis? Wird es überhaupt noch Zertifikate geben?
Befürchtungen, dass man jetzt die für ewig „richtige Entscheidung“ (was ist richtig?) treffen muss, um einen möglichen (Start-)Entscheidungsfehler zu verhindern, sind also mehr als zu relativieren. Diese Einstellungen sind unpassend und naiv. Gut 2/3 der zukünftigen Jobs sind ja noch nicht mal bekannt.
Also, erstmal durchatmen.
[1] Stüvel, Heike: Die heimliche Macht des Unbewussten; in: DIE WELT, 20.3.2009
[2] https://folio.nzz.ch/2008/april/die-macht-des-unbewussten (Abruf 3.7.2020)
[3] Stüvel, Heike: Die heimliche Macht des Unbewussten; in: DIE WELT, 20.3.2009
[4] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Bevoelkerungsvorausberechnung/Methoden/Erlaeuterungen/Sterblichkeit.html#:~:text=In%20der%20Basisannahme%20L1%20ergibt,Lebenserwartung%20in%20Deutschland%202010%2F2012.
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